Tagung 2013 | Conference 2013

“Risikodiskurse, Diskursrisiken:
Europäische Perspektiven auf den sprachlichen Umgang mit Technikrisiken”

Wissenschaftliche Zielsetzung [Read in English]

Die Wahrnehmung von Risikotechnologien durch nationale und internationale Öffentlichkeiten ist in letzter Zeit immer stärker auf die Agenda der Geistes- und Sozialwissenschaften gerückt. Das gilt insgesamt für solche naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen, die als existenzielles Menschheitsrisiko erfahren werden (Zinn 2008). „Risiken” werden dabei als soziale Artefakte aufgefasst, die sich in sozialen Gruppen oder Institutionen formieren (Renn 1992: 69).

Die zunehmende Bedeutung dieses sozialkonstruktivistisch geprägten Risikobegriffs in der internationalen Forschung ist leicht dadurch erklärbar, dass die Rahmenbedingungen im Bereich der Natur-, Lebens- und Geowissenschaften immer stärker in gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Meinungsbildungsdiskursen (Wynne 1992; Nowotny et. al. 2001; Jasanoff 2005; Kurath 2005) gesetzt werden. Wesentliche Determinanten dieses Meinungsbildungsprozesses systematisch in verschiedenen Disziplinen zu beleuchten, ist ein Ziel der Tagung, da dadurch die öffentlichen Wahrnehmungen von Technikrisiken deutlich werden (z.B. Wiedemann/Hennen 1990). Daher kommt der Art und Weise des sprachlichen Umgangs mit einschlägigen Themen wie ‚Klimawandel’, ‚Gentechnologie’, ‚synthetischer Biologie’ und ‚Ernährungsrisiken’ in den alten und neuen Medien eine entscheidende Bedeutung zu, da durch die sozialen Praktiken der Themenformulierung (z.B. Metaphernbildung, Argumentationsmuster, Anschluss an alte Risikodiskurse) die öffentliche Wahrnehmung geprägt wird (Kleinwellfonder 1996; Calsamigla/van Dijk 2004; Müller et. al. 2010; Lösch 2012). So bildet sich eine öffentliche Haltung zu Technikrisiken aus, die über die Instrumente der Meinungsforschung und der politischen Partizipation als Katalysator und Handlungsrahmen für rechtliche und (wissenschafts–) politische Entscheidungsdiskurse ausstrahlt. Damit erhalten sprachliche Bewältigungspraktiken im öffentlichen Raum erhebliche Relevanz für Gesetzgebungsverfahren und damit auch für die Handlungsmöglichkeiten der wissenschaftlichen Forschung und schließlich die Entwicklung und Implementierung von Technologien in der Gesellschaft (Nerlich 2010; Kehrt u.a. 2011; Grunwald 2010).

Die hier skizzierte Tagung setzt sich zum Ziel, Forscherinnen und Forscher aus dem Bereich der Technikfolgenabschätzung und der soziologischen Diskursforschung systematisch mit Vertreterinnen und Vertretern der linguistischen Diskurs– und Medienanalyse ins Gespräch zu bringen. Die beteiligten Disziplinen teilen dabei die Ausgangsposition, dass Diskurse soziale Praktiken der Themenformierung sind, in denen sich die epistemischen, deontischen und konativen Zugriffsmöglichkeiten auf Sachverhalte konstituieren (Keller 2005; Warnke 2007; Felder/Müller 2009; Habscheid/Reuther 2013). Es wird z.B. untersucht, wie bestimmte Themen in öffentlichen wie auch wissenschaftlichen Debatten aufkommen, durch welche Aussageordnungen, Argumentationsmuster, Metaphern, Re–Kombinationen alter und neuer Diskursmuster etc. Evidenzen erzeugt werden, die dann wieder ihren Niederschlag z.B. in Gesetzgebungsinitativen, Regularien, wissenschaftspolitischen Programmen und damit ganzen Forschungslinien finden (Jasanoff 2005; Kaiser et.al. 2010; Böschen 2013; Böschen/Wehling 2012). Die Bedeutung des diskurstheoretischen Blicks auf Risikodiskurse liegt also darin, erforschen zu können, wie ein Thema in öffentlichen Debatten aufgegriffen wird, sich durch diese ggf. erst als Risiko formiert und in Folge Effekte nicht nur in Kontroversen, sondern auch in Forschungspolitik und Regulierung zeigt (Lösch 2013). In diesem Sinne erhält die Erforschung der Risikodiskurse in den Medien für die Technikfolgenabschätzung explizit Gewicht.

Die Expertise der Diskursanalyse ist hier insbesondere von Bedeutung, da solche Diskurse im Bedingungsgefüge der verschiedenen Orientierungsdiskurse (Tanner 2003) und Interessengruppen eine Eigendynamik entwickeln, die v.a. von den Akteuren der Natur– und Lebenswissenschaften selbst als Risiko, nämlich als Diskursrisiko wahrgenommen wird. Die soziologische Diskursanalyse schärft dabei den Blick auf die Handlungsebene der einzelnen gesellschaftlichen Akteure und Institutionen und kann so zeigen, wie Technikrisiken auf der Makroebene der gesellschaftlichen Wissensproduktion konstituiert, distribuiert und transformiert werden (Keller 2005). Die linguistische Diskursanalyse öffnet die Perspektive auf die sprachlichen Muster der sozialen Konstitution von Risiken und die spezifische Medialität der sprachlich formierten Sachverhalte (van Dijk 2009). Damit können rhetorische Mittel (Metaphern, präsupponierte Topoi, Überzeugungs– und Überredungsstrategien, syntaktische und textuelle Sachverhaltsverknüpfungen) in ihrer Abhängigkeit von Medien, Sprechergruppen und Kommunikationssituationen analysiert werden (z.B. Wengeler 2003; Liebert 2005; Nerlich 2010). Weil Sachverhaltsperspektivierungen, die in Sprache angelegt sind, Entscheidungshandlungen insinuieren (Köller 2004; Felder/Müller 2009; Felder 2013), ist die linguistische Expertise hier hoch relevant. Mit den Mitteln der Diskursanalyse werden auch explizite und implizite semantische Kämpfe (Felder 2006) analysiert, in denen um die Durchsetzung sprachlich gebundener Sachverhaltsperspektivierungen in öffentlichen Diskursen gerungen wird.

Bedeutung der Tagung für die beteiligten Fachgebiete

Die Bedeutung der Tagung für die Risikoforschung in den Bereichen der sozialwissenschaftlichen und linguistischen Diskursanalyse lässt sich erstens methodisch und zweitens inhaltlich bestimmen:

1. Methodische Bedeutung

(Neu–)Bestimmung des Verhältnisses von sprachwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen im Bereich Risikoforschung im Hinblick auf Ziele, Methoden, gegenseitige Ergänzung, Komplementaritäten und unterschiedliche „blinde Flecken” der jeweiligen Disziplinen: Diskursanalytische Forscherinnen und Forscher aus den Bereichen der Sozialwissenschaften und der Linguistik haben sich in den letzten Jahren immer stärker einander angenähert und miteinander vernetzt. Dennoch bleibt es eine Aufgabe die Perspektivendivergenzen, die aus den unterschiedlichen Gegenständen der Fächer resultieren, beständig miteinander abzugleichen und so zu einer Bestimmung kommen zu können, wie die Ergebnisse der einen Forschungstradition jeweils aus der Sicht der anderen zu bewerten und einzuordnen sind.

2. Inhaltliche Bedeutung

Beleuchten der spezifisch europäischen Perspektive auf Risikodiskurse, und zwar im doppelten Sinne: Erstens ist an verschiedenen Themen deutlich gemacht worden, dass europäische Diskurse im Hinblick auf die Konzeptualisierung von Technik– und Umweltrisiken im globalen Vergleich deutliche Idiosynkrasien ausbilden (Jasanoff 2005; Kurath 2005). Europa erscheint, z.B. bei der öffentlichen Wahrnehmung der Grünen Gentechnik, (mit der Ausnahme Spaniens) als vergleichweise homogener Diskursraum. Auf der anderen Seite bedingt die Vielstaatlichkeit Europas eine breite Vielfalt an nationalkulturell und einzelsprachlich geprägten Medienlandschaften. Dementsprechend weisen auch Risikodiskurse in den einzelnen europäischen Staaten und Regionen je einzelne Prägungen auf, die durch die Verhältnisse der jeweiligen Subdiskurse geprägt sind. Die Tagung will den Forschungsstand zur europäischen Perspektivenvielfalt abbilden und zusammenführen.

Die Tagung bringt europäische Geistes– und Sozialwissenschaftler aus der akademisch–disziplinären Forschung und der problemorientierten–interdisziplinären Technikfolgenabschätzung zusammen, die aus ihren je unterschiedlichen Perspektiven sprachliche Risikodiskurse erforschen. Die Referentinnen und Referenten der Tagung forschen in Dänemark, Deutschland, England, Italien, Litauen, Schweiz, Österreich und Spanien. Die Tagungssprachen sind Englisch und Deutsch.

Zitierte Literatur

Böschen, Stefan: (2013): Hybride Wissensregime. Entgrenzungsprozesse zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Baden–Baden (zugl. Universität Augsburg Habil. 2010; erscheint bei Nomos in der Reihe Wissenschafts– und Technikforschung).

Böschen, Stefan / Wehling, P. (2012): Neue Wissensarten: Risiko und Nichtwissen. In: Maasen, S.; Kaiser, M.; Reinhart, M.; Sutter, B. (Hrsg.): Handbuch Wissenschaftssoziologie. Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 317–327.

Calsamiglia H./van Dijk T.A. (2004): Popularization Discourse and Knowledge about the Genoma. In: Discourse & Society 15/4, S. 369–389.

Felder, Ekkehard (Hg.) (2006): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin/New York: de Gruyter (Linguistik — Impulse und Tendenzen 19).

Felder, Ekkehard (Hg.) (2013): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin/Boston.

Felder, Ekkehard/Müller, Marcus (2009): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen”. Berlin, New York.

Grunwald, Armin (2010): Technikfolgenabschätzung – Eine Einführung. Zweite, grundlegend überarbeitete erweiterte Auflage. Berlin: edition sigma (Gesellschaft – Technik – Umwelt, Neue Folge 1).

Habscheid, Stephan/Reuther, Nadine: Performatisierung und Verräumlichung von Diskursen. Zur soziomateriellen Herstellung von “Sicherheit” an öffentlichen Orten. In: Ekkehard Felder (Hg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin/ New York: de Gruyter (= Reihe Sprache und Wissen), S. 127–146.

Janich, Nina/Simmerling, Anne (2013): “Nüchterne Forscher träumen…” – Nichtwissen im Klimadiskurs unter deskriptiver und kritischer diskursanalytischer Betrachtung. In: Meinhof, Ulrike/Reisigl, Martin/Warnke, Ingo H. (Hgg.): Diskurslinguistik im Spannungsfeld von Deskription und Kritik. Berlin: Akademie Verlag (Diskursmuster – Discourse Patterns 1), S. 65–100.

Jasanoff, Sheila (2005): Designs on Nature: Science and Democracy in Europe and the United States. Princeton.

Kaiser, Mario/Kurath, Monika/Maasen, Sabine/Rehmannn–Sutter, Christoph (Hgg.) (2010): Governing Future Technologies: Nanotechnology and the Rise of an Assessment Regime (Yearbook Sociology of the Sciences)

Kehrt, Christian/Schüßler, Peter/Weitze, Marc–Denis (2011): Neue Technologien in der Gesellschaft – Akteure, Erwartungen, Kontroversen und Konjunkturen. Bielefeld.

Keller, Reiner (2005): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden.

Kleinwellfonder, Birgit (1996): Der Risikodiskurs. Zur gesellschaftlichen Inszenierung von Risiko. Opladen.

Köller, Wilhelm (2004): Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache. Berlin, New York.

Kurath, Monika (2005): Wissenschaft in der Krise. Risikodiskurse über Gentechnik im transatlantischen Vergleich. Zürich.

Liebert, Wolf–Andreas (2005): Metaphern als Handlungsmuster der Welterzeugung. Das verborgene Metaphern–Spiel der Naturwissenschaften. In: Fischer, Hans Rudi (Hg.): Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose… Zur Funktion von Metaphern in Wissenschaft und Therapie. Weilerswist: Velbrück, 2005, S. 207–233.

Lösch, Andreas (2012): Risiko als Medium zur Kommunikation von Nichtwissen. Eine soziologische Fallstudie zur Selbstregulierung der Nanotechnologie. In: Janich, N.; Nordmann, A.; Schebek, L. (Hrsg.): Nichtwissenskommunikation in den Wissenschaften. Interdisziplinäre Zugänge. Frankfurt am Main, Berlin u.a., S. 171–207

Lösch, Andreas (2013): Die diskursive Konstruktion technologischer Wirklichkeit. Baden–Baden (unter dem Titel „Technologien jenseits ihrer Regulierbarkeit” zugl. TU Darmstadt Habil.; erscheint bei Nomos in der Reihe Wissenschafts– und Technikforschung).

Müller, Marcus/Freitag, Birgit/Köder, Franziska (2010): Plant biotechnology in German media. A linguistic analysis of the public image of genetically modified organisms. In: Biotechnology Journal 5, 541–544.

Nerlich, Brigitte (2010): ’Climategate’: paradoxical metaphors and political paralysis. In: Environmental Values. 19(4), S. 419–442.

Nowotny, Helga/Scott, Peter/Gibbons Michael (2001): Re–Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainity. Oxford.

Renn, Ortwin (1992): Concepts of Risks. A Classification. In: Krimsky, Sheldon/Golding, Dominic (Hg.): Social Theories of Risk. Westport, S. 53–79.

Tanner, Klaus (2003): Vom Mysterium des Menschen. Ethische Urteilsbildung im Schnittfeld von Biologie, Rechtswissenschaft und Theologie. In: Anselm, Rainer/Körtner, Ulrich (Hg.): Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung. Göttingen. S. 135–158

Van Dijk, Teun Adrianus (2009): Society and Discourse. How social Contexts influence Text and Talk. Cambridge.

Warnke, Ingo H. (Hg.) (2007): Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin/New York: de Gruyter. (Linguistik – Impulse & Tendenzen; 25)

Wengeler, Martin (2003): Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960-1985). Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik 244).

Wiedemann, P.M.; Hennen, L. (1990): Schwierigkeiten bei der Kommunikation über technische Risiken. In: Forschungszentrums Jülich (Hrsg.): Technik und Gesellschaft. Jülich: Forschungszentrum Jülich 1990, S. 9–34. (Konferenzen des Forschungszentrums Jülich, Bd.1).

Wynne, Brian (1992): Risk and social Learning: Reification to Engagement. In: Krimsky, Sheldon/Golding, Dominic (Hgg.): Social Theory of Risk. Westport CT, S. 275–297.

Zinn, Jens O. (Ed.) (2008): Social Theories of Risk and Uncertainty: An Introduction. Oxford.